Anna Seidenegg, Gastwirtsgehilfin, Wirtschafterin

Anna Seidenegg wurde 1913 geboren. Ihr Vater fiel im Ersten Weltkrieg, dann starb auch ihre Mutter, so dass sie ohne Eltern aufwuchs. Nach dem Besuch der Volksschule, 1927, ging sie als Schwesternschülerin in ein Kloster in Graz. Als sie 1934 mündig wurde, trat sie aus dem Orden aus, ging nach Berlin und war froh, in der Gastwirtschaft Schäfers in Berlin-Mitte, Charlottenstraße 81/Ecke Zimmerstraße (heute Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg) Arbeit zu finden. Sie war dort als Haushaltshilfe und Gastwirtsgehilfin tätig. Erst viel später stieg sie zur Wirtschafterin auf.

Anna hatte all die Jahre eine lesbische Liebesbeziehung zu der viel älteren Gastwirtin Gertrud Schäfers, geb. Franke. Sie trafen sich in der Wohnung der Schäfers, die oberhalb der Gaststätte lag. Dort wohnte auch Anna in einem kleinen Dienstmädchenzimmer. Manchmal gingen sie auch in die nahe gelegene „Schildkröte“, Markgrafenstraße, wenn nicht Gertrud Schäfers Ehemann dort wie gewohnt saß und sich betrank. Das unauffällige Verhältnis der beiden Frauen war im Hause Schäfers wohl allgemein bekannt, aber man hielt sich erst einmal zurück mit Klatsch und Tratsch. Gertrud war die Chefin, und das Viertel bot auch sonst viel Buntes in Sachen Sexualität.

Die Gastwirtschaft Schäfers an der Zimmerstraße lag mitten im Prostituiertenviertel der Friedrichstadt. Strichjungen trafen sich mit ihren Freiern in kleinen Pensionen, die besonders preisgünstig waren. Dazu gehörte die Pension Trense in der Zimmerstraße 95, neben dem Völkischen Beobachter, Nr. 94, gelegen. Nach einer Strafanzeige fand dort eine Razzia statt. Strichjungen, wie Willi Itau, geb. 05.02.1919, kamen ins KZ. Der Wirt Otto Trense, geb. 15.04.1886, musste seine Pension am 01.04.1935 schließen.

Die Freudenmädchen schlenderten, beobachtet von ihren Zuhältern, durch die Straßen. Andere saßen in Erkerfenstern und winkten freundlich lächelnd nach Kundschaft. Auch hier wurde der Völkische Beobachter mit einer Anzeige aktiv, und zwar 1937. Die Mitarbeiter müssten stets auf dieses abstoßende Ritual von gegenüber in der Zimmerstraße 12 blicken, und wie zum Hohn säßen die Sexgirls noch über einem Reklameschild des Völkischen Beobachters. Allerdings hatte hier die Strafanzeige keinen Erfolg. Weibliche Prostitution war im Prinzip nicht strafbar.

Das friedliche Bild von der unangefochtenen Liebe zwischen Anna und Gertrud ändert sich abrupt im Ehescheidungsverfahren Schäfers ./. Schäfers 1942 bis 1945 und dem damit verbundenen Ermittlungsverfahren gegen die Zeugin Anna Seidenegg wegen Meineids.

Die junge 27jährige Anna hatte sich auch nach anderen Partnerinnen umgesehen. Dazu gehörte Gertruds Schwiegertochter Maria Schäfers, geb. Hahn, geb. am 06.05.1909 in Klawsdorf Krs. Rösel, die als Wirtschafterin der Gastwirtschaft Schäfers arbeitete. Sie wohnte mit ihren kleinen Kindern zwar im Wedding, Togostraße 40a, blieb aber meist bis in die Nacht im Lokal. Maria Schäfers liebte leichte Beziehungen zu Männern. Frauen kamen für sie nicht in Betracht. Die Annäherungen von Anna ertrug sie nur widerwillig. Und eines Tages kam es zum Eklat.

Maria Schäfers im Ehescheidungsverfahren

„Vor etwa drei Jahren hat die Zeugin Seidenegg in der Toilette in meiner Gegenwart angefangen zu stöhnen und wollte mir unter die Röcke greifen. Sie hatte schon die Röcke hochgehoben. Daraufhin schlug ich ihr ins Gesicht, worauf hin sie sich lang auf den Boden legte und sagte, gegen Frauen kann ich mich nicht wehren. Die Zeugin treibt heute noch anormalen Verkehr mit Gertrud Schäfers, geb. Franke, in Berlin SW 68, Charlottenstr. 81. Diese ist die Stiefmutter meines Mannes."

Anna Seidenegg bestreitet: „Der Vorfall, den die Beklagte eben geschildert hat, ist nicht wahr. Im Gegenteil, sie hat mir mal unter die Röcke gefasst."

Die brutale Zurückweisung von Anna Seidenegg im Jahre 1940 sprach sich bald im ganzen Haus herum. Jetzt wurde sie als „Andersartige“ in der Gastwirtschaft Schäfers nur noch gemobbt. Sogar Gertrud, ihre Geliebte, soll Berichten zufolge vor ihr als mögliche Gefahr für die Tochter von Maria Schäfers gewarnt haben. Deshalb sann Anna Seidenegg auf Rache. Die Gelegenheit bot sich erst zwei Jahre später, als der Ehemann von Maria Schäfers an der Front war und die Ehe zu kriseln begann.

Anna Seideneggs Beobachtung

„Im Sommer 1942 war ich in der Küche der Gastwirtschaft Schäfers beschäftigt. Ich ging von der Küche nach der Toilette und sah abends in der Dunkelheit in der Ecke die Beklagte (gemeint ist die anzeigende Frau Schäfers, Anm. des Unterzeichneten) mit einem Soldaten zusammenstehen. Es war ein SS- oder SA-Mann in grauer Uniform, wie ich weiß. Die beiden hatten sich umfasst, der Soldat hatte die Hände unter den Röcken der Beklagten. Als die beiden mich sahen, ging die Beklagte weg und sagte später zu mir, ich solle nichts ihrer Schwiegermutter von dem sagen, was ich gesehen habe... An dem gleichen Abend haben dann die beiden Schnaps zusammen getrunken. Sie gingen dann zusammen in das hinten gelegene Vereinszimmer und tanzten. Hierbei sah ich, dass der Soldat die Beklagte abküsste. Sie ließ es sich gefallen."

Anna Seidenegg wartete, bis der Ehemann auf Fronturlaub kam. Dann teilte sie ihm diese Ungeheuerlichkeit mit. Er glaubte ihr, weil er selbst außereheliche Beziehungen hatte, und klagte auf Scheidung. Maria verlor ihre Arbeit und den Familienunterhalt als Ehefrau eines Frontsoldaten von 175 RM, die Miete in der Togostraße 40a kostete allein 49,50 RM. Sie stand vor dem Nichts. Deshalb zeigte sie Anna Seidenegg bei Gericht wegen Meineids an.

Das Ehescheidungsverfahren dauerte aufgrund des Krieges bis 1945. Beide Seiten wurden für schuldig erklärt. Das Verfahren wegen Meineids gegen Anna Seidenegg wurde am 10.04.1945 von Amtsgerichtsrat Jennrich eingestellt, „da unbeteiligte Augenzeugen fehlen“. Bestraft wegen lesbischer Liebe wurde sie nicht.

Anna Seidenegg löste Maria Schäfers als Wirtschafterin der Gastwirtschaft ab.

Das Haus in der Charlottenstraße 81/Ecke Zimmerstraße wurde im Krieg zerstört.

Text: Carola Gerlach

Quellen

LAB A Rep. 358-02, Nr.76843, 86 Js 784/43, 116 Js 113/45 ./. Anna Seidenegg, wegen Meineids
LAB A Rep 358-02, Nr. 115723 – 729, 2 Ju KLs 110/38 ./. Hans Modrock u.a. wegen § 175 StGB
LAB A Rep. 358-02, Nr. 117872, 2 Ju Ls 18/39 ./. Willi Itau wegen § 175 StGB
LAB A Rep. 358-02, Nr. 124331, 1 Kup Ms 108/37 ./ Johanna Schurich wegen Kuppelei
LAB B Rep. 206-01, Nr. 369-370 Bezirksamt Kreuzberg, Abräumakte Charlottenstraße 81, 1951