Gertrud Obst, lesbische Masochistin
Gertrud Obst war eine aufmüpfige Genießerin. Von ihrer Mutter verstoßen, tauchte sie mit 15 Jahren in die Berliner Sado-Maso-Szene ein.
Domino-Bar, die Diele der Damen, Berlin-Charlottenburg, Marburger Straße 13. „Das intime Lokal des Westens“. „Die berühmte Zigeunerkapelle Ionesco“. Werbeanzeige in Ledige Frauen Nr.1, 1929, Schwules Museum. Die Domino-Bar existierte von 1923 bis 1932, 1933 firmierte das Lokal als Bal Musette GmbH, Inhaber Heinz Bial.
Gertrud Obst wurde am 22.03.1910 in Pacherwitz, Kreis Neumark, Schlesien (heute Polen), unehelich geboren. Ihre Mutter ging nach Berlin. Das Kind überließ sie ihrem eigenen Stiefvater in Pacherwitz, der die Vormundschaft ausübte. Noch bevor Gertrud die Volksschule beendet hatte, schaffte er die Jugendliche zur Mutter nach Berlin und lehnte jede weitere Verantwortung ab. Ab Januar 1914 wurde Anna Lindner vom Jugendamt Charlottenburg Gertruds Amtsvormund. Das war ein üblicher Vorgang bei unehelichen Kindern von ledigen Müttern, auch wenn die Kinder dort gut aufgehoben waren.
Gertruds Mutter, Emma Obst, wohnte in Berlin-Wilmersdorf, Zähringerstraße 17, und war als Hausangestellte tätig. Sie weigerte sich strikt, ihre Tochter bei sich aufzunehmen. Heimatlos, wurde Gertrud von ihrem Amtsvormund in verschiedene Dienststellungen gebracht, die ihr auch eine Wohnmöglichkeit boten, u.a. in der Pension Rosenberg, Helmstedter Str. 19. Eine Lehrstelle kam aus Kostengründen nicht in Frage.
Gertrud konnte die Ansprüche ihrer Arbeitgeber_innen nicht erfüllen, sie fand es einfach langweilig, die Treppe zu putzen und herumkommandiert zu werden. Mehrfach wurde sie entlassen und war dann obdachlos. Deshalb suchte sie bald einen anderen Halt, den ihr keiner nehmen konnte, und fand ihn in der Lesbenszene am Tauentzien. Schon mit 16 Jahren amüsierte sie sich regelmäßig in der Domino-Bar in der Marburger Straße 13, die als „Eldorado der Damen“ und „intimste Damenbar“ in ganz Berlin bekannt war. Dort entdeckte sie mit den Frackträgerinnen die Sado-Maso-Szene und ihre sexuelle Präferenz als lesbische Masochistin. Manchmal ging sie dann mit ihrer Domina in das nächstgelegene Hotel. Daneben verdiente sie als Prostituierte ihren Lebensunterhalt.
Am 12.12.1926 ging dieses scheinbar sorgenfreie Leben abrupt zu Ende. Sie wurde von einem Sexpartner, dem Arbeiter Amelung, zur Wache gebracht. Er hatte Angst vor einer Geschlechtskrankheit bekommen und wollte das Mädchen untersuchen lassen. Gertrud wurde in die Jugendhilfsstelle des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz überstellt und vernommen. Hier erzählte sie ihr ganzes Leben, auch die schönen Erlebnisse in der Domino-Bar, selbstbewusst, wie sie war. Gegen das Räderwerk der so genannten Jugendwohlfahrt kam sie allerdings nicht an.
Das Jugendamt beantragte die Fürsorgeerziehung. Emma Obst, ihre Mutter, war einverstanden. Dann war sie die Sorge gänzlich los. Gerda, völlig erschöpft vor dem Amtsrichter, war auch einverstanden. Amtsgerichtsrat Marquard haspelte in seinen Beschlüssen nur das Übliche herunter, wenn es um Mädchen ging und stellte fest: „eine erhebliche Verwahrlosung der Minderjährigen im Sinne des § 63, besonders in moralischer Beziehung, da sie sich geschlechtlichen Ausschweifungen hingibt. Es ist eine dringende Gefahr für das körperliche und sittliche Wohl der Minderjährigen im Verzug“. Die Mutter wurde wegen Vernachlässigung ihres Kindes nicht bestraft.
Am 24.01.1927 beschloss Marquard im Namen des Amtsgerichts Charlottenburg gemäß § 63, 2 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, die endgültige Fürsorgeerziehung von Gertrud Obst. Sie wurde im Mädchenheim Haus Waldfrieden, Berlin-Lichtenrade Kaiser-Wilhelm-Straße 29 (heute Kirchhainer Damm), interniert. Der Beschluss galt bis zur Vollendung des 19. Lebensjahrs am 22.03.1929, konnte aber auch darüber hinaus verlängert werden. Dazu schweigt sich die Akte aus.
Text: Carola Gerlach