Liebestoll. Die Geschichte von Frieda Reimann und Irmgard Krüger

Im Sommer 1942 wartet Kriminaloberassistent Fritz Miekeley, geb. 29.01.1906 in Berlin, im Homosexuellendezernat KI M II/2 im Polizeipräsidium am Alexanderplatz auf neue Fälle. Er hat gerade mehrere Ermittlungen erfolgreich abgeschlossen. Die homosexuellen Männer oder Strichjungen wurden dem Haftrichter vorgeführt und erhielten dann bei Gericht nach §§ 175, 175 a 3 oder 175 a 4 StGB hohe Strafen. Manche Vorbestrafte kamen nie wieder frei, sondern wurden in das KL Sachsenhausen überstellt.

Die schwulen Frauen, für die das Homosexuellendezernat ebenfalls zuständig war, gerieten meist durch Denunziationen in sein Büro. Die Nachbarinnen kamen mit ihnen nicht klar, auch weil lesbische Frauen selbstbewusster auftraten, als es die tradierte Rolle der Frau vorgab. Manche gingen sogar in Hosen über den Hof, und jede Kritik prallte an ihnen ab. Diese "Sittenlosigkeit" musste gemeldet werden. Selbst Mütter zeigten ihre Töchter an, so wie Margarethe George, geb. Kumpfert, geb. 13.03.1897 in Berlin, wohnhaft in Berlin-Marzahn, Amanlisweg 20. Sie war in dem Tagebuch ihrer Tochter auf ein Liebesgeständnis zu einer Frau gestoßen: "Seitdem ich deinen Körper kenne, komme ich nicht mehr von dir los."

In solchen Fällen geriet Miekeley in einen tiefen Konflikt, denn lesbische Liebe war im Strafgesetzbuch nicht vorgesehen. Wie viele seiner Kolleg*innen bei der Polizei fand er das ungerecht, gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Frauen war für ihn schließlich auch Unzucht. Deshalb suchte er immer nach anderen Formen der Bestrafung. Der Tochter von Frau George verbot er jeden Kontakt zu der Liebe ihres Lebens, der französischen Zwangsarbeiterin Jacqueline B. von der AEG drohte er im Wiederholungsfall mit polizeilichen Maßnahmen, ohne gleich das breite Spektrum der Möglichkeiten im Jahre 1942 wie Arbeitshaus Rummelsburg, Arbeitserziehungslager Fehrbellin oder KL Ravensbrück aufzuführen. Der als gewalttätig bekannte Abwehrbeauftragte bei den AEG Apparatefabriken Treptow, August Bogdahn, geb. 28.08.1902 in Grünwald/Ostpreußen, stand ganz auf seiner Seite, und fortan arbeiteten Miekeley und Bogdahn eng zusammen, wenn es um Zwangsarbeiterinnen oder dienstverpflichtete Frauen bei der AEG ging.

Am 10. Juli 1942 bekam KOA Miekeley eine Strafanzeige auf den Tisch, die es in sich hatte. Eine Frieda Reimann geb. Mendles, geb. 29.11.1913 in Berlin, zeigte zwei Frauen wegen sexueller Belästigung an. Irmgard Krüger, geb. Dojahn, geb. 23.06.1902 in Schleusenau Krs. Bromberg/Westpreußen (heute Polen), und Herta Sperling, geb. Kühl, geb. 17.10.1910 in Berlin-Spandau, hätten sie in ihrer winzigen Kellerwohnung betrunken gemacht, mit Zärtlichkeiten überhäuft und sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Das sah erfolgversprechend aus, zumal Frieda Reimann in den Ausführungen zur Strafsache und in den beigefügten Liebesbriefen an Irmgard Krüger viele strafwürdige Details offenbarte.

Bei den umfangreichen Vernehmungen von allen Frauen, die zum Freundinnenkreis der Beteiligten gehörten, musste er allerdings seine Gedanken immer wieder ordnen. Solch wirre Liebesgeschichten von Lesbierinnen hatte er noch nicht gehört. Fast alle waren verheiratet oder geschieden, hatten mehrere Kinder und liebten trotzdem Frauen.

Die Anzeigende, Frieda Reimann, war eine Frau mit hoher erotischer Anziehungskraft und für Miekeley die eigentliche Täterin. Die noch nicht einmal dreißigjährige Ehefrau ohne Beruf wartete, bis ihr Ehemann, Robert W. Reimann im April 1941 an die Front ging, um ihren sexuellen Gelüsten nachzugehen. Geld genug hatte sie durch die Familienunterstützung als Kriegerfrau, und die beiden Kinder wusste sie bei den Eltern in guten Händen. Sie wohnten auf demselben Flur in der Friedrichsfelder Straße 38 in Berlin Horst-Wessel-Stadt (heute Wriezener Karree, Friedrichshain).

Frieda war Stammgast im Café Mayfärth in der Pankstraße 16 am Nettelbeckplatz, Berlin-Wedding, einem verrufenen Frauenlokal. Dort tanzten die Frauen so eng miteinander, dass die unbeteiligten Zuschauer*innen auch dazu animiert wurden. Manchmal ging sie nach einem amüsanten Abend im Varietétheater Plaza am Küstriner Platz (heute Franz-Mehring-Platz) auch in das gut bürgerliche Lokal Heise an der Fruchtstraße (heute Straße der Pariser Commune). Das Publikum war gemischt. Wenn man aber genauer hinsah, so schwangen auch lesbische Frauen miteinander das Tanzbein.

Varietétheater Plaza im ehemaligen Ostbahnhof

Varietétheater Plaza im ehemaligen Ostbahnhof am Küstriner Platz 11. Luftaufnahme um 1930: Landesarchiv Berlin LAB F Rep. 290 (02) Nr. 0194522 Neben dem „Wintergarten“ und der „Scala“ gehörte das „Plaza“ mit seinen 3000 Zuschauerplätzen zu den größten Varietés der Reichshauptstadt. Im September 1929 von den jüdischen Anteilseignern der „Scala“ zu Beginn der Weltwirtschaftkriese erbaut, waren „Plaza“ und „Scala“ nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten „arisiert“ worden. Das ursprüngliche Plaza-Konzept als Volksvarieté im Arbeiterbezirk für Leute mit wenig Geld blieb aber unverändert.

Im Lokal Heise lernte sie im November 1941 die zehn Jahre ältere Irmgard Krüger kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick, für beide. Nach dem Tanz gingen sie sofort in Irmgards Wohnung. Sie lag nur ein paar Schritte vom Lokal Heise entfernt, Lange Straße 62/Ecke Fruchtstraße. Die beiden Frauen konnten nicht mehr voneinander lassen, wie Frieda in ihrem Liebesbrief schreibt. Und sie hatten viel Zeit, Frieda Tag und Nacht, und Irmgard vor und nach ihrer Schicht bei der AEG in Treptow. Ihre schon etwas älteren Kinder waren, wie damals oft üblich, bei einer Pflegefamilie untergebracht. Es hätte eine lebenslange Beziehung zwischen den beiden Frauen werden können, so nahe waren sie sich. Doch es kam zur Krise.

Durch die Wohnverhältnisse spielten sich die Intimitäten der beiden Frauen scheinbar vor aller Augen ab. Irmgard wohnte mit Herta Sperling und deren Kind in Stube und Küche. Herta hatte zwar auch ein lesbisches Verhältnis zu Frieda Koschwitz, lehnte aber nach eigener Aussage jegliche etwa intime Berührung vor den Augen des Kindes ab. Realisierbar war es kaum. Die Eltern von Frieda, mit denen sie dicht an dicht wohnte, verachteten lesbische Frauen. Der Vater sprach nur von "Nuttenkeller", wenn es um Friedas Geliebte Irmgard und um ein Treffen in ihrer Kellerwohnung ging. Die Situation wurde unerträglich, zumal Irmgard schon wieder schwanger war, von einem jungen Soldaten, den sie vor Frieda Reimann kurz kennengelernt hatte.

Für Irmgard wurde die Beziehung zu Frieda zu gefährlich. Frieda verlangte mehr Sex, als sie bieten konnte, riet ihr sogar zur Abtreibung, um wieder frei verfügbar zu sein. Trotzdem suchte sie nach einer einvernehmlichen Lösung, vor dem Bruch. Sie nahm Frieda mit in ihre Heimat Bromberg (heute Bydgoszcz, Polen) und vermittelte sie an ihre Cousine Luise Götz, von der sie wusste, dass sie auch auf Frauen stand.

Frieda konnte Irmgard nicht verzeihen, ihr Lebensglück war zerstört. Rache schien für sie in diesem Moment als der einzig mögliche Weg. Erst im Laufe der Vernehmungen und Gegenüberstellungen durch Kriminaloberassistent Miekeley wurde sie wieder klar und nahm die Anzeige zurück.

Der Fall war damit eigentlich abgeschlossen, und als durch das Dezernat KI M I/4 KS Raunigk auch keinerlei Beweise für eine versuchte Abtreibung gefunden wurden, stellte der Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin das Verfahren gegen Irmgard Krüger am 20.11.1942 ein.

Für Frieda Reimann allerdings beginnt der Leidensweg erst. Miekeley zeigt sie beim Bezirksamt/Jugendamt an. Er liest noch einmal die Vernehmungsprotokolle, in denen sich die Frauen gegenseitig Versäumnisse vorwerfen, die vielleicht gar nicht stattgefunden haben, und schreibt in seinem Beamtenbericht vom 26.08.1942:

"In einem hier schwebenden Ermittlungsvorgang wegen Unzuchtshandlungen unter Frauen und Anstiftung zur Abtreibung ist folgendes festgestellt worden: Die Ehefrau Frieda Reimann, geb. Mendles, geb. 29.11.13, Berlin O 17, Friedrichsfelder Straße 38 wohnhaft, ohne Beschäftigung, bezieht eine Familienunterstützung von 210,50 RM. Unter Vernachlässigung ihres Haushalts und ihrer 4 und 6 Jahre alten Kinder treibt sie sich in lesbischen Lokalen herum, um gleichgeschlechtlichen Anschluß zum Zwecke der Unzucht zu suchen. Nach ihrem eigenen Geständnis hat sie mit der seinerzeit schwangeren Irmgard Krüger geb. Dojahn, Berlin O 17, Langestraße 62 wohnhaft, ein gleichgeschlechtliches Verhältnis unterhalten, wobei es zum wechselseitigen Mundverkehr gekommen ist. Die Unzuchtshandlungen fanden in der Wohnung der Krüger, hauptsächlich jedoch in ihrer eigenen Wohnung statt. In ihrer anormalen geschlechtlichen Triebhaftigkeit hat sich die Reimann derart unbeherrscht und schamlos gezeigt, dass sie in Gegenwart ihrer Kinder und anderer Zeugen bei der schwangeren Krüger bei eingeschalteter Beleuchtung den Mundverkehr ausgeübt hat. Die Krüger gibt in ihrer Vernehmung hierzu an, dass die R. bei den Unzuchtshandlungen ihren 6jährigen Jungen, welcher im Bett lag, aufgefordert hat, sich umzudrehen. Die R. wohnt mit ihren Eltern zusammen auf einem Flur. Ihre Eltern scheinen von ihrer Veranlagung zu wissen, denn der Vater bezeichnete die Wohnung der Krüger als Nuttenkeller. Der 6jährige Junge, der diesen Ausdruck aufschnappte, hat diesen auch in der Folgezeit gebraucht.

Im Hinblick auf vorstehend bekannt gewordene Tatsachen besteht die dringende Gefahr, dass die Kinder der R. verwahrlosen. In einem Brief an die Krüger schreibt die R., dass sie sich nach dem Kriege von ihrem Mann scheiden lassen würde, um dann mit der K. zusammen zu leben. Obwohl die R. angibt, dass die Krüger die einzige Frau ist, mit der sie bisher gleichgeschlechtlich verkehrt hat, sind diese Angaben aufgrund des bisherigen Ermittlungsergebnisses anzuzweifeln. Die Reimann befindet sich zurzeit in Bromberg, wo sie eine andere Freundin besucht."

Der Bericht wird von Kriminalkommissar Franz abgezeichnet und geht noch am gleichen Tag an das Bezirksamt Horst Wessel Abt. Fü R 291113, Berlin O17, Brommystraße 1.

Frieda Reimann verliert die Familienunterstützung als Soldatenfrau, ein Verfahren zum Entzug ihrer Kinder wird eingeleitet, ihr Ehemann Robert W. Reimann lässt sich von ihr scheiden, er beantragt sogar ein Strafverfahren wegen Ehebruchs, allerdings ohne Erfolg, weil die Ehescheidung auf beiderlei Schuldeingeständnis basierte.

Als alleinstehende Frau ohne Kinder wird Frieda Reimann dienstverpflichtet, wie so viele Frauen während des Krieges. Und eines Tages trifft sie vielleicht in den AEG-Apparatefabriken Berlin-Treptow, Hoffmannstraße 15-24 wieder auf Irmgard Krüger. Und die Liebe entflammt erneut.

Fritz Miekeley füllt über alle vier beteiligten lesbischen Frauen Karten für die beim Geheimen Staatspolizeiamt geführte Homosexuellenkartei aus. 1943 wird er zum Kriminalsekretär befördert. Bis 1945 trägt er zur Bestrafung homosexueller Männer und lesbischer Frauen bei. Nach dem Krieg kann er seine Tätigkeit fortsetzen, er war nicht in der NSDAP. 1953 wird er gänzlich in den den Dienst der Kripo übernommen, belegt sind Ermittlungen gegen Homosexuelle in der Kriminalinspektion Tiergarten, 1955.

Text: Dr. Carola Gerlach, Bernd Grünheid

Liebesbrief von Frieda Reimann an Irmgard Krüger

Liebesbrief von Frieda Reimann an Irmgard Krüger

Undatierter Liebesbrief von Frieda Reimann an Irmgard Krüger LAB A Rep. 358-02 Nr. 27986

Quellen

LAB A Rep. 358-02 Nr. 27986 79 JS 602/42, ./. Irmgard Krüger wegen Beleidigung auf sexueller Grundlage, § 185 StGB
LAB A Rep. 358-02, Nr.43311, 85 Js 196/42, ./. Margot Scholz wegen Unzucht unter Frauen
LAB A Rep.358-02, Nr. 113531, Unz Js 70/42, ./. Jacqueline B. wegen öffentlichen Ärgernisses, § 183 StGB
LAB A Rep. 001-06 Nr. 17158, Personalakte Irmgard Krüger, Stationsmädchen im Horst-Wessel-Krankenhaus, 1934
LAB A Rep. 358-02 Nr. 41376, 84 Js 823.42, ./. Frieda Reimann wegen Ehebruchs
B Rep. 058, Nr. 8, 1 JS 9/65 ./. Bovensiepen wegen Mordes, Zeugenaussage von Fritz Miekeley am 15.07.1965